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Werner Bock
Die Prozessorientierung in der Gestalttherapie
Meine ersten Berührungen mit der Gestalttherapie fanden im Jahre 1970 statt.
Die Gestalttherapie hatte zu diesem Zeitpunkt 19 bewegte Jahre in Amerika hinter
sich. Ich war damals 22 Jahre alt und Psychologiestudent in Würzburg.
Der Vorstand unseres altehrwürdigen Institutes, Professor Wilhelm Arnold, war
überzeugter Humanist und interessierte sich daher für die in den 50er und 60er
Jahren in Amerika entstandene "Humanistische Psychologie", diese Gegenbewegung
zur Psychoanalyse und zum Behaviorismus, diese so genannte "dritte
Kraft" mit ihrem neuen optimistischen Menschenbild und neuen Ideen auch für
ein Verständnis von Psychotherapie - jenseits eines medizinischen Krankheitsmodells
und den daraus resultierenden Vorstellungen von Diagnosen und Behandlungen.
Die europäische Existenzphilosophie und Phänomenologie waren wesentliche
philosophische Wurzeln dieser neuen Orientierung am Menschen in der Psychologie.
So bot sich an, eine Brücke zwischen Amerika und Europa zu schlagen,
und unser Psychologisches Institut organisierte 1970 einen "Internationalen
Kongress für Humanistische Psychologie" in Würzburg.
Wir Studenten waren damals im emanzipatorisch-politischen Kampf gegen die
Institutsleitung engagiert, für die Befreiung von den Zwängen der bürgerlichen
Wissenschaft.
Und mitten hinein in diese Auseinandersetzungen erlebten wir plötzlich durch
diesen Kongress eine Atmosphäre an unserem Institut, die bis dahin unvorstellbar
war: In den heiligen Hallen fanden neben den gewohnten Vorlesungen
und Seminaren so genannte "Workshops" statt, in denen, wie sich ein Teilnehmer
erinnert, es "laut und heftig" zuging; statt den üblichen intellektuellen Diskussionen
kamen bei den Teilnehmern intensive Gefühle zum Ausbruch, Besonders
spezielle Vertreter dieser Humanistischen Psychologie, die sich "Gestalttherapeuten"
nannten, z. B. Jim Simkin, demonstrierten und propagierten
eine völlig neue Art von Psychotherapie und verwandelten dabei unser ehrwürdiges
Institut - auch für unseren eher konservativen Professor überraschend -
für ein paar Tage in eine bunte Arena, in der Freiheiten, für die wir politisch
kämpften, plötzlich verwirklicht schienen.
Nach meinem Wissen wurde die Gestalttherapie im Rahmen dieses Kongresses
zum ersten Mal in Deutschland öffentlich vorgestellt.
Unvergessliche Tage für einen Psychologiestudenten im zweiten Semester!
Es war wie das Erleben einer konkreten Utopie von einer Gesellschaft, in der
Menschen ihre Potentiale entwickeln und sich ohne Maske und Fassade begegnen.
Ich war fasziniert; ein Funke war übergesprungen und hatte etwas in
mir angezündet: eine Flamme, die bis heute brennt.
Als ich schließlich 1981, also vor 20 Jahren begann, zusammen mit Frank-M.
Staemmler eine Ausbildung in Gestalttherapie anzubieten, erlebten wir bald,
dass es schwer war, die Theorie der klassischen Gestalttherapie systematisch
zu vermitteln, da diese Theorie selbst in keiner Weise systematisch ausgearbeitet
war. Dieser Mangel wurde für uns und andere zur Herausforderung,
selbst an der Weiterentwicklung der Theorie zu arbeiten. So setzte ab etwa
1987 in Deutschland eine rege Theorieentwicklung ein. Unsere gründliche Reflexion
real erlebter Prozesse ermöglichte eine, wie ich meine, lebendige Theorie,
die, weil sie aus der Praxis kommt, mit dieser in Verbindung bleibt und
Orientierung für die konkrete therapeutische Arbeit gibt. Und bis heute ist die
Theorie der Gestalttherapie kein abgeschlossenes System, sondern immer
noch im Werden.
Es ist also viel passiert in diesen 31 Jahren, seit 1970 die ersten Gestalttherapeutinnen
in Deutschland auftauchten.
Der Kern meiner Faszination war in all den Jahren die so genannte Prozessorientierung
der Gestalttherapie. Fritz Perls hat dafür die Vorlage gegeben mit
seinem Satz: "Wir werden ... nicht auf das Material, sondern auf den Prozess
schauen" (1976, 76). Und genau das ist für mich bis heute das Wesentliche der
Gestalttherapie: Wir unterstützen unsere Klientinnen nicht primär auf einer inhaltlichen
Ebene; sondern helfen ihnen, in Prozesse zu kommen - Prozesse, in
denen gerade die Inhalte, unter denen die Klientinnen leiden, sich auflösen und
dadurch der Weg frei wird für Lösungen, die aus dem aktuellen Erleben der
Klientinnen heraus neu entstehen.
Die Klientinnen befreien sich dabei von der Illusion der Verantwortungslosigkeit,
von der Illusion einer inhaltlichen Lösungsmöglichkeit und von der Illusion
der Kontrolle. In diesem dreifachen Befreiungsprozess können alte nicht mehr
passende Strukturen überwunden, überholte Anpassungen aufgegeben und
neue eigene Erlebens- und Verhaltensmöglichkeiten erarbeitet werden.
Es gelang uns, die innere Struktur solcher Veränderungsprozesse aufzuklären
und die Bedingungen zu bestimmen, die gegeben sein müssen, damit Klientinnen
diese intensiven Prozesse durchleben können (Staemmler & Bock
1991/1998). Das hatte Konsequenzen für unser Verständnis von der inneren
Haltung der Therapeutinnen, mit denen sie ihren Klientinnen begegnen, und
von der Qualität der therapeutischen Beziehung, die den Boden bereitet für diese
Veränderungsprozesse in unseren Klientinnen (Staemmler 1993).
Wenn ich mit diesem Verständnis von Therapie und menschlicher Veränderung
in die Zukunft schaue bin ich selbstbewusst und optimistisch. Ich
weiß, dass wir als Gestalttherapeutinnen etwas Eigenes und Wertvolles anzubieten
haben. Und auch wenn der Zeitgeist sich seit den 60er Jahren verändert
hat und heute nicht mehr nach Selbstverwirklichung schreit, diesem zentralen
Wert der Humanistischen Psychologie, der nichts anderes meint, als den Versuch,
wirklich das eigene Leben zu leben, jenseits von Entfremdung und
Fremdbestimmung - sondern wenn der Zeitgeist heute von uns im Gegenteil
besseres Funktionieren verlangt, ist es mir umso wichtiger festzustellen, dass
in der Gestalttherapie Heilungschancen liegen für viele heutige Störungsbilder,
die gerade dieser Zeitgeist erzeugt.
Allerdings hat unser Therapieverständnis tatsächlich nichts mehr mit einem medizinischen
Krankheitsmodell zu tun; es erfordert neue Arten von Diagnostik
und braucht andere Interaktionsformen zwischen Therapeut und Klient als die
klassische Behandlung von Patienten. Dahin können wir auch nicht mehr zurück.
Es ist für mich von daher verständlich, dass Gestalttherapie nicht als Regelverfahren
von den Krankenkassen anerkannt ist und ich sehe auch ihre Zukunft
nicht in dem scheinbar abgesicherten Versorgungssystem einer kassenärztlichen
Vereinigung. Wir werden andere Wege und Formen finden müssen, die
mit den wesentlichen Inhalten der Gestalttherapie besser vereinbar sind*
Sonst entstehen Unstimmigkeiten, die die Effektivität der therapeutischen Arbeit
beeinträchtigen. Ich weiß davon aus meiner Arbeit als Supervisor.
Aber gerade die Stimmigkeit zwischen Form und Inhalt ist für uns Gestalttherapeutinnen
eine wesentliche Kraftquelle für die Arbeit mit unseren Klientinnen.